Zweck der Kindesanhörung/Kindesbefragung – (gesetzliche) Vorgaben vs. Realität

Es gibt grundsätzlich drei Zwecke der Kindesanhörungen (Befragungen):

1. Im Rahmen einer familienpsychologischen Begutachtung, zur Erhaltung respektive Wiederherstellung des Kindeswohls:

a) Erkundung und Befund zur der Persönlichkeitsstruktur des Kindes, seiner Ressourcen und Defizite, seiner Resilienzen und Verarbeitungsmodi
b) Besseres Fallverständnis
c) Beantwortung der gerichtlichen Fragestellung anhand der Befunde
d) Erkundung des Kindeswillens unter den Gesichtspunkten Stabilität, Autonomie, Zielorientierung und Intensität (Dettenborn & Walter).
e) Erkennen respektive Ausschließen des selbstgefährdenden Kindeswillens (Dettenborn)

2. Im Rahmen eines Gesprächs mit dem Verfahrensbeistand/Jugendamt, um ggf. eine Empfehlung vor Gericht auszusprechen – siehe 1 b), d), e)

3. Im Rahmen der richterlichen Anhörung, um sich ergänzend zu 1. und 2. einen persönlichen Eindruck von dem Kind zu verschaffen (§ 159 Abs. 1 FamFG)

Die Realität sieht allerdings eher so aus, dass die Kinder mit ungekonnter, häufig gar dilettantischen Fragestellung dazu gebracht werden, sich für einen und gegen den anderen Elternteil zu positionieren, was meist fälschlicherweise als Kindeswillen gedeutet wird und damit als Entscheidungsgrundlage dient.

Schlechte Fragestellung kann den Loyalitätskonflikt eines Kindes verstärken.

Familiengerichtliche Realität: Was/wie wird gefragt?
Standardfragen in der Kindesanhörung.

Die Kindesanhörungen, die ich analysiere, auswerte und zu denen ich meine Expertise verfasse, bewegen sich in aller Regel im Bereich schlecht bis sehr schlecht, weil sie de facto keinen fachlichen Empfehlungen oder Leitlinien entsprechen, die von einigen Kinderschutzorganisationen (z.B. das deutsche Kinderhilfswerk) oder Fachautoren  (z.B. Dettenborn/Walter) empfohlen werden.

In meiner Praxis erlebe ich für gewöhnlich Fragestellungen, die so formuliert werden, dass das Kind in seiner “ein Elternteil besser – anderer Elternteil schlechter” Überzeugung bestärkt wird. Bei beeinflussten, entfremdeten, symbiotisch mit einem Elternteil verbundenen Kindern ist eine solche Fragestellung sinnlos im Hinblick auf die Informationserhebung und  kontraproduktiv im Sinne des meist ohnehin schon vorhandenen Loyalitätskonflikts. Aus der Erhebung geht  zwar meist zwischen den Zeilen hervor, dass das Kind in seiner freien Persönlichkeitsentfaltung stark eingeschränkt sein dürfte (Art. 2 GG) – nur müsste dies erkannt und konsequent als Handlungs-/Entscheidungsgrundlage verwendet werden, was in dieser Kombination in nahezu 100% der mir bekannten Fälle nicht passiert.

Nachfolgend eine kleine Auswahl von Fragen, die ich in unterschiedlichen Varianten im Repertoire von Jugendämtern, Verfahrensbeiständen, Gutachtern und Richtern (m/w/d) seit Jahren herumgeistern erlebe:

Typische Fragen bei einer Kindesanhörung

    • Bei wem möchtest du wohnen und warum?

    • Möchtest du mehr bei Mama oder Papa sein?

    • Bei wem fühlst du dich wohler?

    • Was kann Mama/Papa tun, damit du wieder Kontakt mit ihm/ihr haben willst?

    • Was findest du an Mama gut, was an Papa?

    • Was gefällt dir (besser) bei Papa und was bei Mama?

    • Wäre es für dich in Ordnung, Papa/Mama wieder zu sehen, wenn er verspricht, bestimmte Sachen nicht anzusprechen/wenn eine Person euch begleitet und aufpasst?

    • Darf Mama/Papa dich anrufen?

    • Wäre das ok, wenn Mama/Papa dir ein Geschenk schickt?

    • Wann möchtest Du Papa/Mama wieder sehen?

Wir sehen hier eine Mischung aus geschlossenen und offenen Fragen.

Die geschlossenen Fragen (Frage 1, 2, 3) erlauben nur eine Wahl zwischen den Elternteilen und führen zwangsläufig dazu, dass die Entscheidung des Kindes in nahezu allen Fällen zugunsten des emotional vereinnahmenden Elternteils ausfällt.

Die offenen Fragen (“W-Fragen”) erlauben zwar theoretisch eine freie Beantwortung, doch bei manipulierten und entfremdeten Kindern führen sie nach meiner Erfahrung zu einer von zwei knappen Antworten, nämlich: “nichts”oder “ja, aber”.

Typische Antworten der Kinder in der Kindesanhörung

Hier eine kleine Auswahl an typischen Kinderantworten für so formulierte offene Fragen:

    • Papa kann nichts tun, damit ich ihn wieder sehen will.

    • An Mama finde ich nichts gut. Ich kann mich auch an nichts Gutes erinnern. Manchmal hat sie früher lustige Sachen gemacht, aber jetzt nicht mehr.

    • Bei Papa war eigentlich nur das Pony schön, aber jetzt ist das Pony alt und stinkt.

    • Ja, Papa darf mich von mir aus anrufen, aber nur einmal im Monat und ich möchte spontan entscheiden, ob ich dann mit ihm sprechen möchte.

    • Ja, Mama darf mir ein Geschenk schicken, aber ich möchte es auch zurückschicken dürfen, wenn mir danach ist.

    • Ja, ich kann mir vorstellen, Papa/Mama irgendwann wieder zu sehen, aber erst wenn ich zur Ruhe gekommen bin. Vielleicht in fünf Jahren, aber dann möchte ich mich trotzdem dagegen entscheiden dürfen.

Sie merken vielleicht schon: Der einzige Eindruck, der sich aus diesen Antworten erschließt, ist, dass das Kind in seiner Wahrnehmung deutlich verunsichert ist, konfabuliert, findet keine Lösungsansätze (mal ehrlich: ist auch nicht die Aufgabe des Kindes!) und sich deshalb in eine Vermeidungshaltung flüchtet, um sich vor der Überforderung oder vor den Konsequenzen seiner Entscheidung zu schützen. Der “Wille”- in dem Fall die Ablehnung – erscheint stabil, intensiv, zielorientiert und autonom. Alles nach fachlichen Vorgaben von Dettenborn – wunderbar, dann können wir den Fall abschließen, nicht wahr?
Falsch.
In Wirklichkeit handelt es sich mit einer an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit lediglich um eine Bewältigungsstrategie.

Durch die vermeintliche Ausweglosigkeit versuchen viele Kinder, dem Loyalitätskonflikt zu entgehen.

Kinder entscheiden sich stets zugunsten der emotional vereinnahmenden Elternperson

Grundsätzlich gilt: Kinder entscheiden sich nahezu ausnahmslos für den emotional vereinnahmenden Elternteil, weil sie andernfalls eine vollständige Ablehnung durch diese Person befürchten. Der tolerantere, nicht nachtragende und mehr aufgeschlossene Elternteil dagegen wird von den Kindern als derjenige betrachtet, der Ablehnung, Verachtung, Hass und Wut ertragen kann.
Unlogisch? Im Gegenteil. Im Zweifelsfall stehe ich Ihnen, liebe Fachkräfte, für eine Analyse respektive Konsultation gern zur Verfügung.

Als Fachkraft laufen Sie möglicherweise Gefahr, all das zum Zeitpunkt der Befragung nicht zwingend zu erkennen – aufgrund der Merkmale des “Willens”, die scheinbar alle Kriterien erfüllen – und begehen damit den Fehler, die Aussagen des Kindes nicht als Schutzstrategie, sondern als den “Kindeswillen” zu deuten, der schließlich nicht gebrochen werden dürfe (doch glauben Sie mir, es gibt durchaus andere Wege, einen manipulierten Willen in einen autonomen zu verwandeln) und ihn im Endeffekt als Entscheidungsgrundlage oder Empfehlung zu verwenden.

Ausblick: Wie kann eine Anhörung alternativ und konstruktiv durchgeführt werden?

Die Kinderschutzorganisationen und Fachautoren betonen in ihren Empfehlungen einige Punkte, die ich, ergänzt und erweitert mit meinen eigenen beruflichen Erkenntnissen, an dieser Stelle insbesondere den Fachkräften unter Ihnen ans Herz legen möchte, und gleichzeitig auch natürlich den Eltern, damit sie die Qualität der Befragung Ihres Kindes grob einschätzen können.

1. Ablauf verändern

Vorab sollten die Eltern des Kindes einzeln befragt werden. Sie können den Eltern Fragen zu dem Kind (nach der Freizeitgestaltung, Interessen, Hobbys, Freunden, Konfliktbewältigung, Verarbeitungsmechanismen, Resilienz, etc.) stellen und dabei gleichzeitig auf die Art der Erzählung achten (Mimik, Gestik, Tonfall, Sitzhaltung).
Erst danach – idealerweise mit einigen Tagen Abstand,  sollte das Kind befragt werden.
Idealerweise sollte die Befragung des Kindes

2. Form und Inhalt der Fragen optimieren
Offene Fragen stellen oder Gesprächsanregungen geben, um dem Kind die Möglichkeit zu geben, frei zu antworten, anstatt mit geschlossenen Fragen seine Antwortmöglichkeiten einzuschränken oder ihm gar vorgefertigte Antworten zu suggerieren.

Beispiele für Don’ts und Do’s:

❌️ Magst du mir vielleicht etwas von dir erzählen?
✅️ Erzähl mir doch bitte etwas von dir!

❌️ Warst du dann wütend? / Dann warst du bestimmt sehr traurig!
✅️ Wie ging es dir denn damit?

❌️ Was machst du gern bei Papa und was bei Mama?
✅️ Was machst du gern in deiner Freizeit?

❌️ Wieviele Tage möchtest du bei Papa und wieviel bei Mama sein?
✅️ Erzähl mir bitte, wie deine Woche aussieht. Wie ist es für dich?

❌️ Das hört sich schlimm an! / Das war bestimmt schlimm!
✅️ Mhmm… Wie ging es weiter?

❌️ Welche Freunde hast du bei Mama und welche bei Papa?
✅️ Wie heißen deine (besten) Freunde? Was unternimmst du mit ihnen?

❌️ Was spielst du gern bei Papa und was bei Mama?
✅️ Was spielst du gern? Wer ist alles dabei?

❌️ Wer kann dich besser trösten?
✅️ Wenn du traurig bist, was brauchst du dann?

❌️ Was kann Papa/Mama tun, damit du ihn/sie wieder sehen willst?
✅️ Als du dich das letzte mal sauer auf deinen besten Freund warst – wie habt ihr es geschafft, euch wieder zu vertragen?

❌️ Darf Papa/Mama dich anrufen/unter Aufsicht besuchen?
✅️ Wenn du einen Freund/Freundin vermisst, was machst du dann? Wie geht es ihm/ihr damit?

Vorteile der alternativen Fragestellung bei der Kindesanhörung:

Sie können den authentischen Kindeswillen ermitteln, ohne eine Frage direkt danach zu stellen. Bei direkt gestellten Fragen ist anzunehmen, dass sich das Kind für die emotional vereinnahmende Elternperson positioniert, sein “Wille” den Erwartungen dieser Person entspricht und dabei bemerkenswert stabil und zielorientiert scheint.
Sie erkunden die Selbstwirksamkeit  des Kindes in der Regulierung und Bewältigung anderer Konflikte verwendet hat
Bei der von mir vorgeschlagenen Art der Fragestellung ermitteln Sie, was dem Kind gut tut, was es gern macht – ohne, dass es dafür eine Elternperson benennen muss.
Indem sie den frei formulierten Angaben des Kindes aufmerksam zuhören, seine Körpersprache und den Tonfall dabei beobachten und die Erhebungen mit den Angaben der Eltern vergleichen (denen Sie zuvor dieselben Fragen stellen), werden Sie einen umfangreichen Eindruck davon erhalten, welcher Elternteil welchen Beitrag zu der Entwicklung des Kindes und seiner emotionalen Verfassung beiträgt. Auch können Sie erste  Hinweise auf die Herkunft der wahrnehmbaren Reaktionsmuster, des geschilderten Konfliktverhaltens und der sichtbaren Verarbeitungsmechanismen des Kindes ableiten und sich so ein Bild von dem Kindeswohl zu machen.
Spaltende Fragen danach, bei welchem Elternteil das Kind was macht und wie es ihm gefällt, entfallen, das Kind wird entlastet und gerät nicht (noch mehr) in den Loyalitätskonflikt. Es darf nur über sich sprechen und muss den Eltern nicht den “Daumen hoch” oder “Daumen runter” geben. Die Chance, dass das Kind über seine wahren Bedürfnisse und Wünsche spricht, ist somit höher.
Kinder, die vor der Anhörung von einem Elternteil (oder von beiden!) “bearbeitet” wurden, werden ebenfalls entlastet – sie wirken dennoch anfangs irritiert, weil sie ihr Programm nicht “abspielen” können. Hier ist es entscheidend, die Form der Fragestellung konsequent beizubehalten. Wenn ein Kind also ungeachtet der neutralen Fragestellung äußert: “Also, bei Mama, da habe ich sehr viele Freunde aber bei Papa keine” oder: ”Bei Papa darf ich mit Freunden spielen, aber bei Mama da verbietet sie es mir immer” können Sie mit ruhigen Stimme einwerfen, dass Papa oder Mama für Sie weniger interessant seien. Wichtig seien nur die Freunde selbst, egal bei wem. Ein entsprechend “bearbeitetes” Kind wird es anfangs immer wieder probieren, Sie für einen der Elternteile emotional zu gewinnen und Sie von diesem Elternteil zu überzeugen. Bleiben Sie konsequent bei Ihrem neutralen roten Faden – nur die Info sei wichtig, nicht der Elternteil –  nach und nach kann eine deutliche Entspannung des Kindes eintreten.

3. Alters- und individuell entwicklungsgerechte Formulierungen verwenden.

Fragen auf eine altersgerechte und verständliche Weise stellen. Beachten Sie dabei jedoch die individuelle Entwicklung des Kindes. Führen Sie zu Anfang einen kurzen Small-Talk (Schön, dich kennenzulernen, wie geht es dir heute, wer hat dich hergebracht, wie lange musstet ihr fahren etc.), um sich das erste Bild vom kognitiven und sprachlichen Stand des Kindes zu machen. Seien Sie versichert, Sie werden die eine oder andere Überraschung erleben!

4. Einfühlungsvermögen bei der Fragestellung/Gesprächsführung zeigen.

Sensibel, einfühlsam und gleichzeitig neutral auftreten, um dem Kind ein Gefühl der Sicherheit, des Vertrauens und der Unparteilichkeit zu vermitteln. Was diese Kombination bedeutet, dürfte an dieser Stelle klar sein.

5. Erhebung differenziert betrachten, Mechanismen aufschlüsseln

Bedürfnisse und die Sichtweise des Kindes verstehen, dabei stets zwischen den Bedürfnissen und der Sichtweise des Kindes unterscheiden – die (beeinflusste) Sichtweise des Kindes kann eine Strategie hervorbringen, die den verborgenen Bedürfnissen nicht zwingend entsprechen muss und sogar selbstschädigend sein kann. Siehe dazu meine weiteren Beiträge hier zum Thema Kindeswille und Kindeswohl.

Der vorstehende Text ist, wie sie sich denken können,  nur ein grober Umriss. Bei individuellen Fragen, für Konsultationen und Anregungen stehe ich Ihnen, liebe Fachkräfte, gern zur Verfügung.

Und auch Sie, liebe Eltern, wenn Sie eine Frage  loswerden wollen oder eine Expertise zur Kindesanhörung benötigen, können Sie mich jederzeit gern kontaktieren.

Infobox:

Harry Dettenborn: “Kindeswohl und Kindeswille, Psychologische und rechtliche Aspekte”, 2021

Dettenborn/Walter: “Familienrechtspsychologie, 2015

Ballhof: “Kinder vor dem Familiengericht”, 2014

DKHW: Handreichung für Richter*innen, 2021, PDF:
https://www.dkhw.de/fileadmin/Redaktion/1_Unsere_Arbeit/1_Schwerpunkte/2_Kinderrechte/2.19_Kindgerechte_Justiz/DKHW_Handreichung_fuer_RichterInnen_Kindgerechte-Justiz.pdf

BMFSFJ: Praxisleitfaden zur Anwendung kindgerechter Kriterien für das familiengerichtliche Verfahren, 2023
https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/praxisleitfaden-zur-anwendung-kindgerechter-kriterien-fuer-das-familiengerichtliche-verfahren-203944

Virginia Satir: “Selbstwert und Kommunikation”, 2002

Hallo mein Name ist Anna Pelz

Ich biete fachliche Hilfestellung bei induzierter Eltern-Kind-Entfremdung für betroffene Eltern, Familienmitglieder und Fachkräfte im Bereich der Familienberatung und des Familienrechts. Deutschlandweit (auch telefonisch und online).