“Mami/Papi ist jetzt ganz allein und vermisst mich…!” Was kann ich als Elternteil tun, wenn sich mein Kind während der Zeit bei mir um das Wohlergehen des anderen Elternteils sorgt?

Ist das Vermissen oder schlechtes Gewissen?

Eltern, mit denen ich spreche, berichten mir regelmäßig folgendes: während der Zeit bei ihnen wird das Kind ohne einen wahrnehmbaren Grund traurig, unruhig, beginnt zu weinen, isoliert sich mit dem Foto oder einem Spielzeug/Gegenstand vom anderen Elternteil oder schaut ununterbrochen auf das Handy, um ja keine Nachricht vom anderen Elternteil zu verpassen. Kommt dann eine Nachricht (häufig angereichert mit auffällig vielen Herzchen und traurigen Emoticons), führt es allerdings zu keiner sichtbaren Entlastung beim Kind. Im Gegenteil, ein solches Lebenszeichen des anderen Elternteils verstärkt meist nur wahrnehmbar die ohnehin schon gedrückte Stimmung des Kindes.

Auf seine Stimmung angesprochen, antwortet das Kind in aller Regel, es sei traurig und würde den anderen Elternteil vermissen.

Viele der Eltern, die ich coache, berichten mir, dass sie in solchen Momenten dazu tendieren, dem Kind zu erklären, dass es in Ordnung sei, jemanden zu vermissen, aber hier und jetzt sei es doch auch schön etc. An sich eine gesunde und gute Strategie, die allerdings hier nicht aufgeht: Die Kinder wirken dadurch nicht entlastet.

Oft haken die Eltern deshalb nach, sprechen ausführlich mit dem Kind und bringen dabei in Erfahrung, dass das Vermissen vielmehr ein starkes Verantwortungsgefühl ist, weil diese Elternperson es geschafft hat, dem Kind zu vermitteln, dass sie traurig/einsam/unglücklich ist, während das Kind beim anderen Elternteil ist.  

Eine recht typische, oft narzisstische, Verantwortungsfalle, in die Ihr Kind getappt ist und die auch vielen Erwachsenen bekannt sein dürfte, die in narzisstischen Beziehungen waren oder sind.

Schlechtes Gewissen als Grundlage der Verantwortungsfalle

Die  Botschaft, die zu dieser Stimmung des Kindes führt, kann – muss aber nicht! –  auf eine direkte Art vermittelt worden sein: Es gibt Elternteile, die in der Lage sind, dem Kind direkt zu sagen oder zu schreiben, dass jeder Tag ohne das Kind für diesen Elternteil eine Hölle auf Erden respektive ein Wandeln durchs Tränental sei.

Häufiger aber ist eine solche Botschaft viel subtiler, oft doppeldeutig. So kann eine Elternperson z.B auch eine vermeintlich beruhigende Botschaft vermitteln: Dass das Kind sich bloß keine Sorgen um sie machen solle, denn während es weg sein wird, werde diese Person sehr beschäftigt sein, keine freie Minute haben, sie habe viel zu tun, werde das ganze Haus putzen, den Wocheneinkauf erledigen, die Reifen wechseln und 10 Raummeter Holz hacken, damit das Kind es schön sauber und kuschelig warm habe, wenn es wieder da sei. All das, versteht sich, mit einem heldenhaf-tapferen Lächeln im Gesicht.

Auch wenn diese Elternperson hier vordergründig vermittelt, dass sie gar keine Zeit hat, um das Kind zu vermissen, verdeutlicht sie im Hintergrund lediglich eines: während du weg bist und eine schöne Zeit hast, ackere mich hier einsam und allein ab, damit es dir gut geht, wenn du wieder da bist. Nur für dich mache ich das. Während du dich beim anderen Elternteil amüsierst. Aber brauchst dir keine Sorgen zu machen. Denn ich habe ja zu tun. Ich habe keine Zeit, mich zu langweilen.

Bei dieser hintergründigen Botschaft kann das Kind sich nicht wohl fühlen und entwickelt schlechtes Gewissen. Es kann die Zeit beim anderen Elternteil nicht genießen und denkt eher daran, dass die Elternperson, die zu Hause geblieben ist, all das nicht machen müsste, wenn das Kind bei ihr wäre. Dann würde sie nicht hart arbeiten, sondern hätte eine schöne und entspannte Zeit mit dem Kind.

Das, was das Kind an dieser Stelle als Vermissen interpretiert und benennt, ist in den meisten Fällen nur das Gefühl der Verantwortung für den Elternteil, der es geschafft hat, dem Kind die Verantwortung für sein Glücklichsein, Wohlbefinden etc. zu übertragen, die vermeintlich nur dann möglich sind, wenn das Kind bei dieser Elternperson ist.

Das darf nicht passieren.

Es ist nicht nur schädlich für das Kind, das auf sich die Bürde nimmt, das Leben des Elternteils zu verschönern und lebenswert zu machen – oft übrigens lebenslang. Es ist auch nach meiner Auffassung seelische Misshandlung des Kindes und ein Ausdruck für mangelnde Erziehungsfähigkeit – unabhängig davon, ob es seitens des Elternteils bewusst oder unbewusst erfolgt.

Schlechtes Gewissen auflösen – mögliche Interventionen

Nachfolgend werde ich kurz erklären, wie Sie Ihr Kind dabei unterstützen können, sich aus dieser Verantwortung zu nehmen und sie dorthin zu senden, wo sie hingehört, nämlich zu dem anderen Elternteil.

Wenn ich mit Eltern spreche, die im Coaching mit mir nach individuellen Lösungsansätzen suchen, berichten mir ausnahmslos alle über drei mögliche Szenarien, die einzeln oder in Verbindung miteinander auftreten können.

Situation 1

Kind wird schweigsam, zieht sich zurück. Kuschelt mit dem Foto des anderen Elternteils oder einem Spielzeug oder Kleidungsstück, oft von diesem Elternteil mit seinem Duft parfümiert.

Handlungsvorschlag:

Don’t:
Wenn Sie die Anzeichen wahrnehmen, dass Ihr Kind sich in die “Ich vermisse/ich fühle mich verantwortlich”- Haltung begibt, fragen Sie nicht, was los sei – weil Sie es schließlich sehen und den Rest ahnen. So kann es für Ihr Kind schon die erste Entlastung allein darin bestehen, dass Sie nicht fragen, sondern beobachten und eigene Rückschlüsse ziehen.


Do:
Formulieren Sie Ihre Beobachtung neutral. Nicht also “Ich sehe, dass Du Mama vermisst/ Du machst Dir Sorgen um Mama/Papa”, denn das ist eine suggestive Formulierung. Stattdessen wäre eine mögliche neutrale Formulierung z.B.: “Ich sehe, du bist sehr still.”

Danach können Sie neutral fragen “Woran denkst du gerade?”. Also nicht: “Was ist los” oder “Was hast du”, sondern “Woran denkst du gerade?”.

Diese Frage öffnet einerseits die Tür zum selbständigen Formulierung der Gedanken, reduziert die Stimmung auf eine Momentaufnahme, einen aktuellen Zustand, der selbstwirksam gestaltet und geändert werden kann.

Don’t:

Wenn Ihr Kind Ihre Vermutung bestätigt und mitteilt, dass es Mama/Papa vermisst und/oder sich Sorgen macht, würde ich von “Du brauchst Dir keine Sorgen zu machen” abraten. Denn je mehr Sie sich bemühen, Ihr Kind zu überzeugen, umso mehr wird das Kind in seinem Verantwortungsmodus bleiben. So sind wir übrigens alle gebaut: Wenn jemand uns etwas ausreden möchte, bleiben wir bei unserer Vorstellung, weil wir uns auf unsere Wahrnehmung – und somit auf uns selbst – verlassen wollen.

Do:
Stattdessen versuchen Sie eine andere Strategie: Knüpfen Sie an die gemeinsame Vergangenheit an und arbeiten Sie mit einer guten Erinnerung. Sagen Sie zum Beispiel (gern mit einem – bitte authentischen – leichten Lächeln): Früher, wenn Deine Mama/Papa Zeit nur für sich hatte, da hat sie leidenschaftlich gern in der Badewanne gelesen/Kekse gebacken/in der Garage gewerkelt/sich mit Freunden getroffen… – je spezifischer, umso besser. Sie können mit dem Satz abschließen: Deine Mama/dein Papa liebt es, Zeit für sich zu haben, da ist sie/er ganz glücklich und es geht ihr/ihm gut.

Schlechtes Gewissen kann zu einer Verantwortungsfalle werden – insbesondere bei Trennungskindern

Merken Sie eine Entlastung beim Kind, meist in Körperhaltung und Gesichtsausdruck wahrnehmbar, können Sie eine Überleitung schaffen, indem Sie Ihrem Kind ein Angebot machen, etwas gemeinsam zu unternehmen: Und was machen wir beide denn jetzt Schönes? (Spiel spielen, Abendbrot zubereiten, draußen Pflanzen gießen etc.)

Kommt keine Entlastung, wird das Kind unruhiger, geht die Situation vermutlich in das Szenario 2 über, was allerdings auch separat existieren kann:

Situation 2:

Kind weint und gesteht, dass es sich Sorgen um die Mama/den Papa macht, weil er/sie ja gesagt hat, er/sie sei traurig und allein, wenn das Kind nicht bei ihr/ihm sei.

Dies bei einer Übergabe, gepaart mit einem tränenreichen “Viel Spaß bei Papa/Mama”, am besten noch mit zitternder Stimme ausgesagt, ergibt eine fatale Doppelbotschaft, bei der schlechtes Gewissen und Selbstvorwürfe beim Kind praktisch schon vorprogrammiert sind.

Auch solche Auftritte stellen aus meiner Sicht die psychische Stabilität und die Erziehungsfähigkeit eines Elternteils in Frage – und bedauerlicherweise ist genau diese Art von “Abschied” sehr weit verbreitet. Für mich auch seelische Kindesmisshandlung. 


Handlungsvorschlag:

Don’t:

Arbeiten Sie nicht mit der Aussage: “Nein, brauchst du nicht/musst du nicht…” . Das sind Nicht-Botschaften, damit kann das Gehirn ohnehin wenig anfangen.

Do:

Stattdessen erläutern Sie:
“Für die gute Laune und das Glück deiner Mama/Papa ist nur ein Mensch verantwortlich, nämlich die Mama/der Papa selbst.”
Doch genau das kann sich als schwierig erweisen, wenn ein Kind im Umfeld des anderen Elternteils immer wieder hört, dass es ein und alles sei und der einzige Grund, warum der andere Elternteil das Leben lebenswert findet. So kann es passieren, dass Ihr Kind genau das erwidert und sich gegen den Gedanken der Selbstverantwortung des anderen Elternteils blockiert.

In diesem Fall erweitern Sie das Thema und bringen ein neutrales Beispiel, um Ihre Aussage zu verdeutlichen. Greifen Sie auch hier auf erlebte Situationen aus der Vergangenheit, die sich allerdings außerhalb des Familienumfelds ereignet haben. Ich erinnere mich an eine Intervention, die ich mit einem Vater erarbeitet habe. Dieser Vater hat ein zu diesem Zeitpunkt ca. 10 jähriges Kind, dessen Lieblingstiere Pferde waren. Das Kind verbrachte viel Zeit damit, über Pferde zu lesen, sie zu beobachten, zu zeichnen und zu erkunden. Nachdem das Kind seinem Vater offenbarte, dass die Mama ohne das Kind nicht glücklich sein kann, weil sie es, das Kind, ausgetragen und geboren hat und das Kind ein Teil von ihr sei, ohne das sie nicht vollständig sein könne (so in etwa das vom Kind zitierte Argument der Mutter),  knüpfte der Vater an einen Ausflug an, bei dem sie beide, Vater und Kind, eine Herde von einigen Pferden beobachteten. Einige Stuten hatten gerade Fohlen. Der Vater erinnerte sein Kind daran und fragte, was die Fohlen machten. Das Kind erwiderte, dass die Fohlen miteinander spielten. Der Vater fragte, wie sie dabei wirkten. Lustig und glücklich – so die Antwort des Kindes. Der Vater hakte nach, wo die Stuten waren und was sie währenddessen machten. Das Kind antwortete, dass die Stuten grasten, dösten oder sich zu anderen Stuten gesellten. Der Vater fragte, wie die Stuten dabei wirkten. “Gechillt” – so die Antwort des Kindes.
Der Vater erklärte nun, dass jedes Wesen in der Lage ist, gut für sich zu sorgen, so, dass es gechillt ist, ob klein oder groß und dass dieses Wohlbefinden unabhängig von anderen ist.
Ein Pferd kann es und ein Mensch kann es genauso.
Dieses Gleichnis konnte das Kind nachvollziehen und auf seine Situation übertragen. 

Anschließend bot der Vater seinem Kind ein Spiel an, dem das Kind zustimmte.

Situation 3:

Kind wird wütend, beleidigt Sie, gibt Ihnen die Schuld an der vermeintlichen Einsamkeit des anderen Elternteils. Es wirft Gegenstände gegen die Wand, schlägt um sich herum. 


Don’t:

In diesem Augenblick bringt es nichts, Dinge erklären zu wollen. Ein wütender Mensch will zunächst nur eines: die angestaute Wut loswerden.

Do:

Zeigen Sie Ihrem Kind in erster Linie, wie seine aufgewühlten Gefühle reguliert werden können, ohne sich oder andere zu verletzen oder einen Schaden einzurichten. Bedenken Sie dabei: Die Wut gilt nicht Ihnen, sondern es wird hier eher etwas befreit, was sich vermutlich in dem anderen Umfeld angestaut hat. Das Kind entlädt seine Emotionen dort, wo es das Gefühl hat, es machen zu dürfen, ohne hinterher mit Liebesentzug oder anderweitig bestraft zu werden, dort, wo es hofft, mit seinen Gefühlen angenommen und verstanden zu werden – bei Ihnen.

Es ist essentiell, hier einen Unterschied reinzubringen und dem Kind einen gesunden Zugang zu seinen Gefühlen und Umgang damit zu vermitteln, der von der “nur brave Kinder werden geliebt”- Haltung abweicht, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in dem anderen elterlichen Umfeld herrscht und das Kind zu diesem Ausbruch brachte. 

Über dieses Thema habe ich bereits öfter geschrieben – zahlreiche Ideen und Impulse finden Sie in meinen anderen Videos, z.B. “Umgang mit Aussagen entfremdeter Kinder”

Wenn Sie individuelle Lösungen für Sie und Ihr Kind benötigen, können Sie mich gern kontaktieren.

Hallo mein Name ist Anna Pelz

Ich biete fachliche Hilfestellung bei induzierter Eltern-Kind-Entfremdung für betroffene Eltern, Familienmitglieder und Fachkräfte im Bereich der Familienberatung und des Familienrechts. Deutschlandweit (auch telefonisch und online).